C-C, 108.21

Weltauffassung

Die Weltauffassung der Canela beruht neben bestimmten Sprach- und Begriffskategorien auf mythologischen Vorstellungen. Diese stellen die Grundlage für Handeln, Denken und die Grundlagen der Organisation des Lebens dar. Eine enge Verknüpfung zwischen Mythologie und Lebenswelt zeigt sich unter anderem in Ritualen wie dem Klotzlauf 1 In einer Illustration von Monika Mehringer 2 werden die sozio-kosmologischen Vorstellungen von Zeit und Raum deutlich, welche Struktur, Philosophie und Handlungsabläufe der Canela mitbestimmen 3

Die Welt, die sich aus verschiedenen Ebenen (Erde, Lebenswelt der sichtbaren Menschen, Unterwelt, mehreren Himmelsschichten, Wolkenschicht) zusammensetzt, wird von einem Weltenbaum, der Cicupira-Palme, gestützt. Auf dieser Erde leben nicht nur die Menschen (Mehi), sondern auch Totengeister (Megaro), die nur für Medizinmänner sicht- und kontaktierbar sind. Die Megaro unterscheiden sich in verwandte Ahnengeister, die auch ungewollt Schaden zufügen können, sowie fremde Totengeister, die immer eine Gefahr für die Canela darstellen. Die Unterwelt wird von Megaro bevölkert, diese versorgen einen Unterweltfluss, der zur Erde fließt und mit seinem Strom Megaro in Form von Fischen, Kaimanen, Anakondas oder Zitteraalen an die Erdoberfläche spült 4 In der Unterwelt lebt auch ein Vogel (Ahuare), „[...] der ständig am Weltenfundament der Cicupira-Palme [...] pickt, was schließlich einmal die Welt zum Einsturz bringen wird.“ 5

Amji Kin und Amji Krit

Die Sozialorganisation der Canela gründet auf einem komplexen dualen Weltkonzept, das die Wissenschaftler Jürgen Dieckert und Jakob Mehringer während ihrer Forschungen zum traditionellen Klotzlauf untersuchten.
Dieses Weltkonzept beruht nicht auf einem dualistischen ‘Gut-Böse-Schema‘, sondern durchzieht alle sozialen Einheiten und ist ein immer präsenter Bestandteil des sozialen Lebens der Canela. In ihrem Weltbild gibt es eine glückliche und eine traurige Jahreszeit, auf Gê – der Sprache der Canela – Amji Kin und Amji Krit.
Amji Kin beinhaltet alles Positive, Fröhliche, Gesunde, Schöne und ‘Wohlriechende‘ innerhalb der Gesellschaft. Im Naturverständnis beschreibt es die erntereiche Trockenzeit und ist der lebensnotwendigen Sonne zugeschrieben. Dies basiert darauf, dass in dieser Jahreszeit durch das trocken-heiße Klima Schlangen und andere giftige Tiere in geringerer Anzahl vorhanden sind. Auch treten in dieser Jahreszeit wenig Krankheiten auf und die Jagd verläuft meist zufriedenstellend. Im Gegensatz dazu steht das Amji Krit für alles Negative, Kranke, Hässliche und ‘Übelriechende‘, sowie für die Finsternis und die Regenzeit.
In der Vorstellung der Canela müssen in der Amji Kin Periode diverse kulturelle Aktivitäten wie Feste, Rituale und Klotzläufe durchgeführt werden. Diese Aktivitäten sichern den Fortbestand der Welt und sorgen für das Überstehen der Amji Krit Periode, in der, aufgrund der schlechten Wetterverhältnisse, nur wenige Feste stattfinden können. „Insgesamt erzeugt so der ständige Wechsel von Trockenzeit, [...] amji kin und Regenzeit, [...] amji krit, ein Spannungsfeld, das für die Canela den ‘Lauf der Welt’ bestimmt.“ 1.
Diese duale Weltordnung beeinflusst ebenfalls den sozialen und individuellen Reifeprozess eines/einer jeden innerhalb der Gesellschaft.

Mythologie in Bezug zur kosmologischen Weltvorstellung

Die Mythen sind ein Teil der Realität der Canela. Die mündlichen Erzählungen der Canela nehmen eine besondere Stellung ein, da sie den Ursprung der Welt darlegen 1.
Die Welt wird in verschiedene Welten unterteilt, die räumliche oder zeitliche Unterschiede aufweisen. Es gibt zum Beispiel die Welt der Toten oder des Gürteltiers. Daneben bilden auch die Vergangenheit und Gegenwart jeweils eine eigene Welt 2. Die Canela gehen von einem mehrschichtigen Universum mit offenen Übergängen zwischen den verschiedenen Welten aus. „Ahnen und Totengeister, umherirrende Seelen, beseelte Tiere, Pflanzen und Menschen bevölkern gemeinsam einen multidimensionalen Raum.“ 3.
Die unsichtbaren Lebewesen verfügen über die Fähigkeit, die sichtbaren BewohnerInnen meist bedrohlich zu beeinflussen und zu gefährden 4. Diesen Vorgängen kann allein der Medizinmann entgegenwirken, der in einer besonderen Stellung „[...] als Mittler zwischen dem Diesseits und Jenseits verkehrt.“ 5.

Die Schaffung allen Lebens und die Gestaltung der Erde findet ihre Zuordnung zu so genannten Kulturheroen (eventuell Canela Begriff für diese Wesen einfügen) einer Urzeit. Diese endet mit der Schöpfung der wahren Menschen und dem Rückzug der ursprünglichen Wesen in den Himmel 6.

Mythologische Überlieferung von Sonne und Mond

Die Canela kennen mehr als 100 mündlich überlieferte Mythen, die heute meist eher als Legenden und Erzählungen aufgefasst werden, da sich Glaubensvorstellungen durch die Generationen hinweg, und auch durch verschiedene Missionarisierungsversuche, verändert haben. Die Mythe von Sonne und Mond ist hingegen bis heute bedeutend und liefert Erklärungen für Überschwemmungen, Waldbrände, Palmenwachstum sowie über den Ursprung der Canela 1.
In frühester Zeit, als es noch keine Menschen gibt, streifen Sonne und Mond in menschlicher Gestalt über die Erde 2 Beide sind männlich und miteinander befreundet (hààpin = compadres) 3.
Während sie auf der Erde unterwegs sind, spielen sie sich gegenseitig Streiche und messen ihr Können in Wettbewerben um zu überprüfen, wer von ihnen der Bessere ist. In über zwölf Episoden, die verschiedene Aufgaben erzählen, die sich Sonne und Mond gegenseitig stellen, gewinnt zum Ende immer die Sonne. Die Ergebnisse der Sonne sind stets positiv, wohingegen der Mond eifersüchtig wird, da seine Ausführungen nicht annähernd so gut gelingen oder sogar scheitern 4.
Eine Aufgabe die von der Sonne aufgestellt wird, ist es, Kinder zu schaffen. Die Kinder der Sonne werden aus einer Badestelle herausholt werden haben langes, schönes, schwarzes Haar und helle Haut. Der Mond geht zum gleichen Teich, seine Kinder tragen jedoch kurze, verknotete Haare und haben dunkle Haut, was von den Canela negativ gedeutet wird 5. Diese Episode wird als Ursprung der Menschen und ihren individuellen Unterschieden verstanden. Weitere mündliche Überlieferungen von Sonne und Mond erzählen bspw. davon, wie die Menschen sesshaft werden und anfangen Nahrungsmittel zuzubereiten 6. Andere Mythen beziehen sich auf die Herkunft des Feuers, der Maispflanze und der Feldwirtschaft, beschreiben das Leben der Vorfahren und stellen Kriege, Kämpfe und Niederlagen gegen die Weißen dar 7

Sonne und Mond ergänzen sich in den Vorstellungen der Canela in ihren Funktionen und sind voneinander abhängig, ähnlich wie die Trockenzeit die darauf folgende Regenzeit benötigt, um einen Kreislauf herzustellen 8

Village of the Dead – Das Dorf der Toten

Die unterschiedlichen Welten der Canela basieren auf traditionellen Festmythen. Eine Ausnahme stellt hierbei die Welt der Toten dar, das ‘Village of the Dead‘ (mé karó khrí), in dem die Verstorbenen in einer eigenen Welt existieren 1.
Die Seelen der Verstorbenen begeben sich nach dem Tod in das Dorf der Seelen oder der Toten, ein bestimmter Ort westwärts. Dort lebt die Seele unter ähnlichen Bedingungen wie im bisherigen Leben in einer Dorfgemeinschaft. Die dortigen Lebensumstände unterscheiden sich in der Intensität des Erlebens z.B. hat das Essen weniger Geschmack, das Wasser ist lauwarm und Geschlechtsverkehr ist weniger erfüllend als im Dorf der Lebenden. Nach einigen Jahren in der Gemeinschaft der Toten verwandeln sich die Seelen in große Wildtiere, die gejagt werden können. Jedoch ist das Fleisch dieser Tiere relativ geschmacklos. Überleben die Wildtiere und werden nicht erlegt, verwandeln sie sich weiter in immer kleinere Tiere (z.B. Fuchs, Ratte, u.s.w.) und Pflanzenüberreste (z.B. einen Baumstumpf) bis die Seelen irgendwann aufhören zu existieren 2.
Offensichtlich wird das Leben im Dorf der Seelen als unangenehm empfunden und niemand möchte sich dort lange aufhalten. Daraus resultiert die Annahme einer Diesseitsbezogenheit der Canela. Das Leben der Gegenwart gilt als erstrebens- und erhaltenswert. Die Canela leben für die belebte Gegenwart und empfinden Mitleid mit den Geistern und Seelen der Toten 3.