C-C 32a

Sozialorganisation

Das Dorf der Canela ist kreisförmig um einen zentralen Dorfplatz ausgerichtet. Wie Sonnenstrahlen führen von dort aus Wege hin zu den Wohnhäusern der Gemeinschaft, den so genannten Langhäusern. Diese werden normalerweise aus Lehm gefertigt und mit geflochtenen Palmstrohdächern überdeckt. Ursprünglich gab es im Dorf nur eine Häuserreihe um den Dorfplatz herum, aber aufgrund wachsender Bevölkerungszahlen wurden weitere Häuserreihen errichtet. Ein „Langhaus“ (ikhre-rùù, Haus-lang) stellt eine physische Sequenz von nebeneinander positionierten Herdgruppen einer Verwandtschaftsgruppe dar, und besteht aus mehreren Kernfamilien, deren weibliche Mitglieder sich der selben Verwandtschaftsgruppe zuordnen lassen. Eine Kernfamilie besteht meist aus 2 bis 7 Mitgliedern, der Mutter, ihren Töchter, deren Ehemännern und Kindern sowie unverheirateten Brüdern 1. Zwei bis sieben solcher verwandter Familien bilden eine Herdgruppe (hàwmrõ), welche einen Herd und die meiste Nahrung teilt.

C-A, 13.16

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C-B, 9.21

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Die Gesellschaft der Canela organisiert sich bilinear. Einige Rechte zur Austragung von Ritualen werden jedoch zumindest teilweise entlang matrilinearer Verwandtschaftsbeziehungen übertragen 2. Klassischerweise heiraten die Canela innerhalb der eigenen Gesellschaft (endogam) aber außerhalb des eigenen und eng verwandter Langhäuser (Langhausexogamie). Nach der Hochzeit zieht ein Mann stets in das Langhaus seiner Frau (Uxorilokalität). Gemeinsam errichten Frau und Mann ein neues Haus innerhalb des Langhaus der Frau. Frauen die im Haus des Vaters, des Großvaters mütterlicherseits oder des Großvaters väterlicherseits leben sind nicht heiratbar und fallen unter das Inzesttabu.

Das Verwandtschaftssystems der Canela ist terminologisch ein Crow-System, d.h. die Vaterschwester (FZ) wird mit der selben Verwandtschaftskategorie wie die Vatermutter (FM), die Vaterschwestertochter (FZD) und die Muttermutter (MM) und Mutterschwestertochter (MZD) bezeichnet. Ebenso fallen der Mutterbruder (MB) Muttervater (MF) in die selbe Verwandtschaftskategorie.

verwandtschaft

Die Frauen innerhalb einer Generation in einem Langhaus nennen sich idealerweise gegenseitig ‘Schwester’. Somit werden die Mütter der ‘Schwestern’ ebenfalls als ‘Mutter’ und die Kinder der ‘Schwester’ ebenfalls als ‘Kinder’ bezeichnet.

Politische Organisation

Die Gesellschaft der Canela durchzieht durchweg ein dialektischer Charakter. Dies wird zum Einen im komplexen Weltkonzept des Amji Kin/Amji Krit deutlich, zum Anderen aber auch in der politischen Organisation. Hierbei wird das komplette Dorf in eine westliche und eine östliche Hälfte (Moiety) aufgeteilt. Diese Aufteilung ist wichtig für die Zuordnung der verschiedenen Altersklassen auf dem Dorfplatz. Männer im Alter von zehn, 30 und 50 Jahren werden in die westliche Moiety (Abbildung 2) eingeordnet, während Männer im Alter von 20, 40 und 60 Jahren der östlichen Moiety zugeordnet werden. Diese Moieties dienen auch zur Einteilung der Gruppen für Zeremonien und Rituale bei denen sie gegeneinander antreten.
Alle 20 Jahre wird aus diesen Moieties der Ältestenrat neu gebildet. Dieser tagt zweimal täglich in der Mitte des Dorfplatzes. Er setzt sich zur Hälfte aus über 50jährigen der östlichen Moiety und annähernd 50-jährigen der westlichen Moiety zusammen. Die östliche Moiety übernimmt hierbei die beratende Funktion.
C-C, 103.6 [Dieckert, Sep 1988]

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C-C, 103.10 [Dieckert, Sep 1988]

C-C, 103.10
Zu den Aufgaben des Ältestenrates gehören die Bestimmung sowie die Unterstützung des Häuptlings bei verschiedenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungen. Er kann aber auch als oppositionelle Kraft dem Häuptling entgegenwirken. Des Weiteren wird durch den Ältestenrat der Festzyklus organisiert und geleitet. Kleinere Zeremonien und Rituale wie beispielsweise der Klotzlauf werden durch die Moieties geplant.
Die politische Organisation und die Zusammenstellung der Moieties ist hauptsächlich Aufgabe der männlichen Mitglieder des Dorfes. Der in der Mitte des Dorfplatzes tagende Ältestenrat ist somit nur von Männern besetzt. Um Interessen der Dorfgemeinschaft zu vertreten, fällt es auch unter den Aufgabenbereich der Männer, mit BrasilianerInnen außerhalb des Dorfes in Kontakt zu treten und sich um den Handel und den Erwerb von Ressourcen zu kümmern.

Arbeitsteilung

Die Rollen und Aufgaben im alltäglichen Leben sind bei den Canela klar verteilt. Frauen übernehmen hierbei Aufgaben wie das Bestellen von Feldern, die Zubereitung des Essens für die Familie, Haushalt, Kindererziehung und das Sammeln von Früchten und Wurzeln.
Männer roden die Felder, jagen Wild und gehen auf Fischfang. Jedoch hat sich diese Rollenverteilung in der heutigen Zeit stark geändert und viele der genannten Arbeiten werden nun von Männern und Frauen durchgeführt. Die politische Organisation wird allerdings allein von den Männern übernommen.
Die Herstellung von Schmuck und anderen Artefakten, welche heutzutage zum Verkauf an Touristen dient, wird von beiden Geschlechtern gleichermaßen übernommen.

C-E, 18.10 [Mehringer, Nov 1989]

C-E, 18.10

C-E, 36.9 [vermutlich Dieckert, Sep 1988]

C-E, 36.9

Individuum

Die Erfahrungen der beiden Geschlechter unterscheiden sich bis zum sechsten Lebensjahr kaum. Bis zu diesem Alter spielen Jungen und Mädchen gemeinsam und es gibt noch keine Unterteilung in die vorherrschenden Geschlechterrollen.
Direkt nach der Geburt eines Kindes befindet sich dieses zunächst in einem wehrlosen und krankheitsanfälligen Zustand, in dem es auf Hilfe anderer angewiesen ist und noch nichts zur Gemeinschaft beitragen kann. Der ‘üble Geruch‘ und ‘die Hässlichkeit‘ eines jeden Kindes sind ein Spiegel der in der Gesellschaft vorherrschenden Vorstellung des Amji Krit. Seinen Namen erhält das Baby von der Tante väterlicherseits (Namensgebende Tante) wenn es ein Mädchen ist, und von dem Onkel mütterlicherseits (Namensgebender Onkel) wenn es ein Junge ist.
Innerhalb des Erziehungssystems der Canela ist es nun die Aufgabe der Gemeinschaft, das Kind in den Amji Kin Zustand zu führen. Das Kind wird mit Körperbemalung geschmückt und sollte in dieser Zeit die schützende Umgebung des Dorfes und der Gemeinschaft nicht verlassen, um zu vermeiden, dass ihm/ihr etwas Schlechtes widerfährt.

Ziel im Leben eines Canela ist es, sich den Status des Klotzläufers oder zumindest den des Mitläufers (aktive Beteiligung am Lauf, aber kein Tragen des Klotzes) zu verdienen. Dafür müssen sie diverse Prüfungen und Aufgaben während des Heranwachsens bewältigen. Nach dem ersten rituellen Sexualverkehr beginnt die sogenannte Resguardo-Phase, die extreme Enthaltsamkeit in Bezug auf Drogen, Sex und Essen beinhaltet. Hierdurch wird der Charakter jedes Einzelnen gestärkt. Des Weiteren ist die erfolgreiche Teilnahme an unterschiedlichen Festen und Ritualen notwendig. Nach Abschluss der Prüfungsphase gilt man als ‘wohlriechend‘ und ‘schön‘ und wird als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft angesehen.

Sexualität

Das für Außenstehende als recht offenherzig wirkende Sexualverhalten der Canela hat sich durch die Einflüsse der brasilianischen Gesellschaft und vor allem durch Missionare gewandelt.
Wenn Canela-Frauen schwanger wurden, wählten sie bis zu zwölf zusätzliche geeignete Männer mit denen sie außerehelich verkehrten. Dabei achteten sie auf besonders vorteilhafte Eigenschaften und Fähigkeiten ihrer Partner, da der allgemeine Glaube herrschte, das jeder Erwählte diese Eigenschaften an das ungeborene Kind weitergebe. Diese Konzeption multipler Vaterschaft 1
America. kam vor allem der Erziehung des Kindes zu gute, da sich jeder der potentiellen Väter verantwortlich sah, die Mutter bei der Erziehung und Versorgung zu unterstützten.
Als im Jahr 1968 das protestantische Ehepaar Popjes in das Canela-Dorf einzog, predigten diese insbesondere gegen die sexuelle Offenheit. Sie verbreiteten die Idee der ehelichen Treue und das Gefühl von Eifersucht auf vermeidliche Nebenbuhler. Auf diese Weise glich sich das Sexualverhalten der Canela mit der Zeit an das westlich-christliche an 2.

Lebenszyklus der Frauen

Ab einem Alter von sechs Jahren beginnt das Mädchen seinen weiblichen Verwandten im Haushalt zu folgen und sie so gut es geht dabei zu unterstützen. Dabei wird es mit seiner Rolle in der Gesellschaft vertraut gemacht. Mit ungefähr elf Jahren verliert das Mädchen seine Jungfräulichkeit an einen kinderlosen älteren Mann aus der Gemeinschaft, der ihr gefällt. Dies wird als ‘erste Heirat‘ bezeichnet. Nach der ersten Menstruation werden dem Mädchen Sexual- und Nahrungstabus auferlegt und es muss für mehrere Tage im Elternhaus bleiben. Während der Initiation wird es ein ‘Ehrenmädchen‘ und ist nun ein Teil der Männergesellschaft. Anschließend beginnt die mé nkrekre-re-Periode, in der es große Freiheit genießt und wenig Verantwortung trägt. Mit durchschnittlich 16 Jahren gebärt eine Frau ihr erstes Kind und geht ihren Aufgaben nach und kümmert sich um Haushalt, Kinder und Familie. Im Allgemeinen nehmen die Frauen bis zu einem Alter von 30 Jahren an Festlichkeiten und Ritualen auf dem Dorfplatz teil. Danach wird die Teilnahme ganz eingestellt und sie beobachten das Geschehen lediglich gemeinsam mit den Kindern. Nach der Heirat der Tochter oder dem Ausziehen der Söhne genießt die Frau ein weitgehend freies Leben mit nur wenigen Verpflichtungen.

Lebenszyklus der Männer

Ab dem Alter von sechs Jahren erlernt der Junge durch Spiele und Gruppenarbeiten erste körperliche Fähigkeiten. Er erhält von seinem Namensgebendem Onkel Pfeil und Bogen, um spielerisch auf seine Aufgabe als Jäger vorbereitet zu werden. Kurze Zeit später werden dem Jungen die Ohren traditionell durchstochen (heute nur noch selten). Im Alter von ca. zwölf Jahren wird der Jugendliche von einer älteren Frau aus der Gemeinschaft an sexuelle Praktiken herangeführt. Für den Heranwachsenden beginnt anschließend die Resguardo-Phase mit strengen Sexual- und Nahrungstabus.
Nachdem er erfolgreich an den Initiationsfesten teilgenommen hat, wird er als Mann anerkannt 1. Erst jetzt kann er in die Struktur der Moieties vollständig aufgenommen werden, verschiedene politische und soziale Aufgaben übernehmen und aktiv an Gesängen und Tänzen auf dem Dorfplatz teilnehmen.
Ab diesem Zeitpunkt bis zu der Geburt des ersten Kindes übernimmt der junge Mann individuelle Aufgaben innerhalb der Gesellschaft und genießt große Freiheit. Als Vater nimmt seine aktive Teilnahme an Festen stetig ab, da die Hauptaufgabe darin besteht, seine Familie zu versorgen.

Bildung

Durch die Unterstützung von Hilfsorganisationen wie der SPI, dem Indian Service oder der FUNAI gelang es den Canela im Dorf eine Schule einzurichten um die Landessprache Portugiesisch zu erlernen und andere Fertigkeiten zu erwerben. Außerdem ist es heutzutage üblich, das Kinder der Canela zusammen mit Kindern von NeobrasilianerInnen Schulen in benachbarten Städten besuchen.
Eine Schriftsprache gibt es bei den Canela ursprünglich nicht. Wissen und Weisheiten über Riten, soziale Fertigkeiten, Jagd, Haushalt und das Leben wurden mündlich tradiert.

C-L, 1.11

C-L, 1.11

C-N, 10.17

C-N.10.17

Kultureller Wandel

Als dann erstmals Händler das Dorf der Canela erreichten, brachten sie allerlei Gebrauchsgüter wie Haushaltsgegenstände, Jagdinstrumente usw., also individuelle Besitztümer mit sich, was den Canela zuvor völlig unbekannt gewesen war. So besteht heute ein persönlicher Anspruch auf Gebrauchsgegenstände wie z.B. Äxte oder Schusswaffen. Diese Veränderung hat nicht nur das Konfliktpotenzial innerhalb des Dorfes erhöht, sondern impliziert auch einen Bruch mit traditionellen Werten. Auch wenden sich seit mehreren Jahrzehnten immer mehr junge Canela von der traditionellen Lebensweise ihrer Gemeinschaft ab und ziehen in nahegelegene Städte.

Amji Kin und Amji Krit

Die Sozialorganisation der Canela gründet auf einem komplexen dualen Weltkonzept, das die Wissenschaftler Jürgen Dieckert und Jakob Mehringer während ihrer Forschungen zum traditionellen Klotzlauf untersuchten.
Dieses Weltkonzept beruht nicht auf einem dualistischen ‘Gut-Böse-Schema‘, sondern durchzieht alle sozialen Einheiten und ist ein immer präsenter Bestandteil des sozialen Lebens der Canela. In ihrem Weltbild gibt es eine glückliche und eine traurige Jahreszeit, auf Gê – der Sprache der Canela – Amji Kin und Amji Krit.
Amji Kin beinhaltet alles Positive, Fröhliche, Gesunde, Schöne und ‘Wohlriechende‘ innerhalb der Gesellschaft. Im Naturverständnis beschreibt es die erntereiche Trockenzeit und ist der lebensnotwendigen Sonne zugeschrieben. Dies basiert darauf, dass in dieser Jahreszeit durch das trocken-heiße Klima Schlangen und andere giftige Tiere in geringerer Anzahl vorhanden sind. Auch treten in dieser Jahreszeit wenig Krankheiten auf und die Jagd verläuft meist zufriedenstellend. Im Gegensatz dazu steht das Amji Krit für alles Negative, Kranke, Hässliche und ‘Übelriechende‘, sowie für die Finsternis und die Regenzeit.
In der Vorstellung der Canela müssen in der Amji Kin Periode diverse kulturelle Aktivitäten wie Feste, Rituale und Klotzläufe durchgeführt werden. Diese Aktivitäten sichern den Fortbestand der Welt und sorgen für das Überstehen der Amji Krit Periode, in der, aufgrund der schlechten Wetterverhältnisse, nur wenige Feste stattfinden können. „Insgesamt erzeugt so der ständige Wechsel von Trockenzeit, [...] amji kin und Regenzeit, [...] amji krit, ein Spannungsfeld, das für die Canela den ‘Lauf der Welt’ bestimmt.“ 1.
Diese duale Weltordnung beeinflusst ebenfalls den sozialen und individuellen Reifeprozess eines/einer jeden innerhalb der Gesellschaft.