Marburger Völkerkundliche Sammlung

Zu den Beständen der Marburger Völkerkundlichen Sammlung gehört eine Sammlung über die nordostbrasilianischen Canela, die annähernd 600 Objekte und Malereien, ein Fotoarchiv mit etwa 11000 Dias, 50 Ton- und acht Filmaufnahmen sowie eine Zusammenstellung von wissenschaftlichen Aufsätzen umfasst. Dieses umfangreiche und vielfältige Material geht auf eine Reihe von Forschungen zurück, die die drei Wissenschaftler Jürgen Dieckert, Jakob Mehringer und Andreas Kowalski zwischen 1988 und 1999 bei den Canela durchgeführt haben.
Die ersten Gegenstände kamen mit Jakob Mehringer 1994/1995 nach Marburg und gingen offiziell 1996 in die Völkerkundliche Sammlung ein. Im Jahr 2002 folgten Objekte und Dias aus dem Privatbesitz von Andreas Kowalski, 2003 schließlich die Sammlung Dieckert.
Die Bedeutung der Canela-Sammlung für die Marburger Kultur- und Sozialanthropologie zeigt sich in den seit den 1990er Jahren immer wieder stattfindenden Lehrveranstaltungen und Ausstellungen über die Canela. Dabei entstandene Hausarbeiten von Studierenden werden im Archiv der Völkerkundlichen Sammlung aufbewahrt und stellen eine wichtige Ergänzung zu den magazinierten Objekten und Malereien dar.

Die Marburger Canela-Sammlung bildet die materielle Kultur einer indianischen Gruppe zu Ende des letzten Jahrtausends ab. Die Objekte stammen aus unterschiedlichen Lebensbereichen, wie auch in den zahlreichen Dias zum Ausdruck kommt. Ein Großteil der Objekte sind Alltagsgegenstände, die für den Erwerb und die Aufbereitung von Nahrung dienen. Dazu gehören geflochtene Körbe und Taschen, Kalebassen und Pflanzstöcke, Werkzeug und Waffen. Eine weitere Gruppe stellen Schmucksachen und Kleidungszubehör dar, darunter eine Reihe von Gürteln und Kopfreifen, die beim Klotzlauf eine Rolle spielen. Musikinstrumente und Zeremonialgeräte sowie zwei Maskenkostüme weisen auf die ausgeprägte Festkultur der Canela hin.
Auch bei den Canela hat der „Fortschritt“ Einzug gehalten. Hiervon zeugen eine Taschenlampe, ein aus einer Blechdose angefertigtes Öllämpchen und eine Schnapsdose sowie zahlreiche für den Tausch bestimmte Halsketten. Eine Canela-Bibel dokumentiert die Missionierungsversuche des Summer Institut of Linguistic. Die Malereien, die in der Marburger Sammlung lagern, sind als etwas Besonderes anzusehen: Auf ihnen präsentieren Canela-Künstlerinnen und Künstler ihre eigene, indianische Kultur mit den Malutensilien der Weißen.

 

Dia-Sammlung

Die Dia-Sammlung über die nordostbrasilianischen Canela umfasst etwa 11000 Dias. Mehrheitlich stammen diese von Jürgen Dieckert und Jakob Mehringer. Nur eine sehr geringe Zahl ist Andreas Kowalski zuzuordnen, dessen Dias hauptsächlich Objektfotografien sind.
Die Motive der Dia-Sammlung sind insgesamt sehr vielfältig: sie reichen von Themenbereichen wie „Natur und Umgebung“ über „Hauswirtschaft“ bis hin zu „Transport“. Als zentrale Motivgruppen sind die Bereiche „Spiel und Bewegung“, „Feste, Gesänge und Tänze“ und „Klotzlauf“ zu nennen. Zusätzlich finden sich einige Aufnahmen, die Dieckert, Mehringer und Kowalski selbst zeigen, z.B. wie sie sich selbst am Klotzlauf versuchen, wie sie von Canela-Frauen bemalt werden oder auch während sie selbst Filmaufnahmen machen.
Das sportwissenschaftliche Interesse Dieckerts an Körper-, Bewegungs-, Tanz- und Spielkultur schlägt sich besonders in der zahlenmäßigen Überlegenheit dieser Motivgruppe gegenüber anderen Motiven nieder. Gleichzeitig wird dieses Interesse auch in der generellen Art der Aufnahmen sichtbar: alle Aufnahmen sind an Handlungs- und Bewegungsabläufen orientiert und bilden diese ab. So machen Portraitaufnahmen und gestellte Aufnahmen, die bewusst etwas vorzeigen wollen, nur einen sehr geringen Teil der Dia-Sammlung aus. Der Fokus auf Menschen in Aktion kann durchaus als Besonderheit der Dia-Sammlung über die nordostbrasilianischen Canela gesehen werden.
Beispiele für solche Sequenz-Aufnahmen sind: Klotzläufer beim Wechseln des Klotzes, Frauen beim Anfertigen von Flechtarbeiten, das Gewinnen der Farbe für Körperbemalungen, gegenseitiges Auftragen der Farbe, das Pressen von Maniok, die gemeinsame Errichtung eines Erdofens oder Bogenschießen.

Andreas Kowalski

Der Ethnologe Andreas Kowalski war zwischen 1995 und 1999 als Projektkoordinator bei dem von Jakob Mehringer und Jürgen Dieckert angeregten Hilfsprogramm tätig. Das Projekt diente der Einrichtung und Inbetriebnahme einer zahnmedizinischen und- technischen Behandlungsstation bei den Canela und erfolgte als deutsch-brasilianische Zusammenarbeit. Während seiner wiederholten, teilweise sehr langen Aufenthalte vor Ort zeichnete Andreas Kowalski seine Erfahrungen mit den Canela und der Entwicklungshilfe auf und führte gleichzeitig eine Feldforschung durch. Das Material diente ihm als Grundlage für seine 2004 veröffentlichte Promotion.
Gleichzeitig erwarb er eine Reihe von Objekten, die nun zum Bestand der Völkerkundlichen Sammlung gehören. Bei den insgesamt 173 Gegenständen handelt es sich um Flechtarbeiten, Gebrauchs- und Schmuckobjekte, Musikinstrumente, ein paar Kinderspielsachen und Tauschgüter, Tabak und Taschenlampen, ein Wahlplakat sowie eine Canela-Bibel. Hervorstechend ist das als Hohi bezeichnete Blasinstrument.
Andreas Kowalski kam 2006 bei einem Flugzeugabsturz in Brasilien ums Leben.

Jakob Mehringer

Jakob Mehringer begleitete als Ethnologe das Forschungsprojekt zur Körper- und Bewegungskultur der Canela und setzte sich mit dem kulturellen und religiösen Kontext des Klotzlaufs auseinander. Nach den Feldforschungsaufenthalten in Brasilien führte er in Marburg eine museumsethnologische Übung durch, aus der 1994 die Ausstellung „Canela. Bilder aus einer indianischen Welt“ hervorging. Grundlage bildeten 12 Malereien, die 1990 Canela-Künstlerinnen und Künstlern für ihn und Jürgen Dieckert anfertigten.
Aus der Sammlung Mehringer stammen weitere 27 Gegenstände aus der Alltags- und Festtagskultur der Canela, so ein Zeremonialspeer, Kopfschmuck, Läufergürtel, Tanzrasseln, Körbe und Holzfiguren. Eine Pitú-Schnapsdose belegt den Kontakt mit der weißen Bevölkerung Brasiliens. Besonderes Highlight bilden zwei Masken, die Kokrit-Geister darstellen.
Derzeit arbeitet Jakob Mehringer erneut an einem Forschungsprojekt bei den Canela.

C-K, 140.16

C-K, 140.16

Sammlung von Jacob Mehringer 1994/95

Darunter 27 Objekte der Alltags- und Festkultur, 12 Malereien, die 1990 von Canela-Künstlerinnen und-Künstlern angefertigt; Ergebnis Ausstellung Canela- Bilder aus einer indianischen Welt Ende April 1995; (Kowalski 204-205). Anmerkung 7 Marburger Canela-Sammlung: 12 Malereien und Zeichnungen (Acryl-Farben auf Packpapier), 2 Masken, 1 Zeremonialspeer, 1 Initianden-Federkopfschmuck, 2 Krawatten, 1 Lanze, 1 Paar Ohrpflöcke, 1 Läufergürtel, 1 Gesangs- und Tanzrassel, 1 Kinderrassel, 1 Federkopfschmuck, 2 Kopfschmuck, 1 Kalebasse, 2 Miniaturbögen, 4 Körbe, 1 Keule, 4 Holzfiguren (Tierdarstellungen, 1 Pitú-Dose); Darunter zwei Masken: Kokrit-Masken – Wassergeist, Pitú-Schnapsdose, 12 Malereien 1990 entstanden.

Jürgen Dieckert

Jürgen Dieckert interessierten als Sportwissenschaftler der Carl von Ossietzky Universität von Oldenburg vor allem die sportlichen Aktivitäten der Canela. Im Rahmen eines von der DFG geförderten interdisziplinären Forschungsprojekts untersuchte er mit Jakob Mehringer die Körper-, Bewegungs-, Tanz- und Spielkultur dieser Gruppe. Ihm ging es dabei um Ursprung und Sinnhaftigkeit der einzelnen Disziplinen und ihre jeweiligen Ausdruckformen, insbesondere den Klotzlauf.
Im Anschluss an ihre mehrmonatigen Aufenthalte bei den Canela in den Jahren 1988, 1989 und 1990 initiierten Jürgen Dieckert und Jakob Mehringer ein Hilfsprogramm zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Gruppe. Es entstanden mehrere Filmberichte über die Canela, die der norddeutsche Rundfunk und das Zweite Deutsche Fernsehen ausstrahlten.
Nach seiner Emeritierung 2003 führte Jürgen Dieckert 397 Objekte der Völkerkundlichen Sammlung zu, darunter Flechtwerk und Kalebassen, Schmuck, Waffen, Spielzeug, Zeremonialstäbe, Läufergürtel und –kopfschmuck sowie Malereien. Er ergänzte die bereits bestehenden Sammlungen außerdem um Dias und Tonbandaufnahmen.

C-O, 4.3

C-O, 4.3

Körperbemalung

Zu zeremoniellen Anlässen, aber auch zur Abwehr von Krankheiten, bemalen die Canela ihre Körper.
Die Canela bemalen hauptsächlich Brust, Rücken, Arme, Beine und Gesicht. Bemalungen führen meist die Frauen durch.
Als Materialien dienen Stoffe aus der Natur wie die rote Farbe aus den Früchten des Urucum, Holzkohle, Latex des Milchbaumes, die dunkelblaue Farbe der Genipapo-Frucht und Kalk.
Bei familiären Anlässen verwenden sie meist Urucum. Urucum steht für Fürsorge der Familie und Gesundheit.
Bemalungen mit Holzkohle zeigen, dass der Träger eine rituelle Fastenzeit durchläuft. In dieser Zeit verzichtet er auf bestimmte Nahrungsmittel sowie sexuelle Handlungen. In der Regel fasten die Canela während Initiationsprozessen und zu bestimmten Lebensereignissen. Bei Mädchen die erste Menstruation, Geburt eines Kindes und bei Jungen die Initiation.
Die Beziehung von Nichten/Neffen zu Onkel/Tanten ist eine sehr lockere. Trifft ein Teil den Anderen albern sie herum und scherzen. Onkel und Tanten unterstützen Ihre Nichten und Neffen bei sozialen Problemen, Fragen und geben ihnen eine Leitende Hand. Auch sind sie für die zeremonielle Reifung
ihrer Nichten und Neffen zuständig. Sie fertigen ihren Schützlingen Schmuckstücke zu einzelnen Anlässen an oder geben diese in Auftrag. Die Eltern-Kind-Beziehung ist neben der Onkel-Neffen- Beziehung eine eher formelle.
Bemalungen mit Kohle und Latex verweisen auf eher lockere oder sexuelle Beziehungen. Dabei bemalen Frauen und Männer entweder Ehegatten, Liebhaber oder Onkel/Tanten und Neffen/Nichten. Eine Person bemalt damit niemals ihre Eltern, Geschwister oder Kinder, aufgrund des evtl. Verweises auf sexuelle Beziehungen.
Federn, Kalk und die blaue Farbe der Genipapo-Frucht verwendet man ausschließlich zu bestimmten Zeremonien. Nie aber im alltäglichen Leben. Da Kalk sehr schwer zu bekommen ist, ersetzen die Canela ihn durch Latex. Heutzutage bemalen sich die Canela immer seltener. Die traditionelle Körperbemalung weicht immer mehr der westlichen Kleidung.

Der Kopfschmuck beim Klotzlauf

Mit der Schnelligkeit und Kraft der Tiere: Der Kopfschmuck der Canela beim traditionellen Klotzlauf.

Festliche Rituale, Körperbemalungen und Gesänge. Dies ist nur ein Ausschnitt aus der Welt der Canela. So ungewohnt diese für uns erscheint, so taucht uns der Fund kurzzeitig in diese spannende Welt ein. Einfarbige Federn und Randbemalungen zieren den verschiedenartigen Kopfschmuck. Dazu strecken sich dem Betrachter, wie Hörner, die verlängerten Enden des Kopfringes entgegen. Die Federn stammen vermutlich von einem Rotfuss-Seriema- einem südamerikanischen Laufvogel. Den Kopfschmuck flechten die Canela aus Palmenfasern. Doch was bedeuten Palme und Tier für den Klotzlauf ?
Eine Antwort darauf geben uns Geschichten der Canela. In insgesamt sechs Tiergeschichten, messen sich gegensätzliche Tiere miteinander: In einem Klotzlauf wird entschieden wer schneller ist. Hierbei wird auch der Seriema-Vogel als Wettteilnehmer erwähnt. Ein Tier mit der Schnelligkeit eines Olympiasiegers. Der Kopfschmuck greift die Eigenschaften der Tiere auf und verleiht dem Klotzläufer ihre Kraft und Schnelligkeit. Die zwei hervorstehenden „Hörner“ des ausgestellten Kopfschmuckes
symbolisieren hier: Mit der Kraft des Rindes. Die Palme, aus der der Kopfschmuck besteht, stellt das Grundmaterial für die Klötze dar. In weiteren Geschichten rund um den Klotzlauf, ist vor allem von ihr die Rede. Eine Geschichte erzählt von der Verwandlung eines Palmenklotzes, in ein wunderschönes Mädchen. Es bittet darum, in Zukunft nur noch aus ihr, der Palme, die Laufklötze zu schlagen. In einer anderen Geschichte stellt die Palme das erste Grundnahrungsmittel dar, welches dem Menschen gezeigt wird. Immer wieder nimmt die Palme eine herausragende Stellung ein. Der Kopfschmuck vereint diese bedeutenden Symbole und erzählt die Geschichten der Canela.

Schmuck

Schmuck repräsentiert bei den Canela vielfältige Faktoren. Gürtel, Schärpen und Kopfschmuck zeigen an ob man bereits Riten des erwachsenwerdens durchlaufen hat.  Durch einige Schmuckstücke drücken sie ebenfalls die Teilnahme an Zeremonien aus. Der ökonomische Wert des Gegenstandes unerheblich. Status und Teilnahme an Festen demonstrieren sie allein durch den Besitz der Schmuckstücke.
Die Canela fertigen den Schmuck aus Naturmaterialien wie getrockneten Palmblätter der Buriti-Palme, Tapirhufen, Samen und Kürbis-Früchten.
Jungen und Mädchen müssen in bestimmten Bereichen ihr Können unter Beweis stellen, und erhalten dafür als Belohnung verschiedene Schmuckstücke. Eine Verschönerung und Aufwertung seiner Selbst geschieht somit nur durch wichtige Übergangsriten und Prüfungen.
Sobald die Jungen und Mädchen diese Prüfungen durchlaufen und ihre Schmuckstücke erhalten haben, können diese im täglichen Leben oder zu den einzelnen Festen getragen werden.

Ehrenobjekte

Jungen und Mädchen können durch besondere Leistungen sogenannte ‘Ehrenobjekte‘ erhalten, indem sie bei Festen oder Ritualen durch ihre Teilnahme besonders positiv auffallen.
Ein Mädchen kann bis zu drei besondere Auszeichnungen erhalten. Diese drei Ehrenobjekte sind eine Kette mit einem kleinen Flaschenkürbis, ein kleiner Holzkamm (meist ebenfalls an einer Kette befestigt) und eine Sängerinnenschärpe, die hahí genannt wird. Diese Objekte können vor oder nach dem Erhalt ihres Reifegürtels verliehen werden, in der Regel aber vor der Geburt ihres ersten Kindes. Um die Sängerinnenschärpe zu erhalten, muss das Mädchen besonders häufig bei den täglichen Gesang-Tanz-Ritualen erscheinen, besonders bei denen am frühen Morgen. Die Sängerin mit der besten Stimme und dem ungewöhnlichsten Singtalent wird mit der hahí ausgezeichnet. Die Familie des Mädchens entscheidet, ob sie Trägerin der Schärpe wird. Entscheidet sich diese dafür, webt ihre namensgebende Tante die hahí aus Baumwolle. Sobald ein Mädchen diese besondere Auszeichnung erhält, muss sie fortan als Erste bei dem täglichen Singen erscheinen. Ab diesem Zeitpunkt gilt sie als Vorbild für die anderen Sängerinnen 1.
Junge Männer können ihre Ehrenobjekte in den Initiationsfesten Khêêtúwayê, Pepyê und Pepkahàk gewinnen. Dadurch sollen sie motiviert werden, sich bei den Tänzen und Gesängen während der Feste besonders anzustrengen. Derjenige, der während der Festzeit am besten gesungen hat, wird mit einem Zeremonialstab ausgezeichnet. Dieser Zeremonialstab wird vom namensgebenden Onkel des Jugendlichen mit Ara-Federn geschmückt. Die Federn stammen von dem Kopfschmuck, den die Initianten während des Khêêtúwayê-Festes tragen. Zudem erhält der Jugendliche einen Federkopfschmuck, den sein namensgebender Onkel ebenso aus Ara-federn herstellt. Ein junger Mann der diese Objekte erhält, darf von nun an am häufigsten singen.
Eine weitere Auszeichnung sind spezielle Armbänder aus Baumwolle. Diese ‘SängerInnen-Armbänder‘ werden von den jungen Männern und Ehrenmädchen getragen, die bei der Waytikpo-Zeremonie, während der Pepyê und Pepkahàk – Feste vortanzen. Am Ende der Wè tè-Festzeit werden die besten Tänzer und Sänger mit diesen Armbändern ausgezeichnet 2.